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INDUSTRIE 4.0 AUCH IM HR-BEREICH – RECRUITING KÜNFTIG NAHEZU VOLLAUTOMATISIERT?

Eines der brandheißen Schlagworte im heutigen Geschäftsleben lautet Industrie 4.0.


Laut Wikipedia ist Industrie 4.0 „ein Begriff, der auf die Forschungsunion der deutschen Bundesregierung und ein gleichnamiges Projekt in der Hightech-Strategie der Bundesregierung zurückgeht; zudem bezeichnet er ebenfalls eine Forschungsplattform. Die industrielle Produktion soll mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik verzahnt werden.


Technische Grundlage hierfür sind intelligente und digital vernetzte Systeme. Mit ihrer Hilfe soll eine weitestgehend selbstorganisierte Produktion möglich werden: Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte kommunizieren und kooperieren in der Industrie 4.0 direkt miteinander. Durch die Vernetzung soll es möglich werden, nicht mehr nur einen Produktionsschritt, sondern eine ganze Wertschöpfungskette zu optimieren.“


Aus dieser Definition lässt sich unmittelbar ableiten, dass Automatisierung ein wesentliches Kernelement von Industrie 4.0 ist.


Automatisierung wiederum beschränkt sich keineswegs nur auf den Produktionsbereich, sondern wirkt sich auch in allen anderen Unternehmensbereichen auf die Prozesse aus und ist somit auch im HR-Bereich längst Realität.


EES, MSS und SSCs beispielsweise sind heute gängige Schlagworte im Rahmen der Automatisierung im HR-Bereich und sie haben unmittelbare Schnittmengen untereinander.


EES steht für Employee Self Service (frei übersetzt: Mitarbeiter-Selbstbedienung). Hierbei handelt es sich um ein web-basiertes Anwendungsprogramm oder eine mobile Anwendung, mit der Mitarbeiter eigene personalbezogene Daten selbst anlegen, anzeigen, ändern oder Genehmigungsprozesse starten können.


Durch den Zugriff der Mitarbeiter auf eigene Daten und Prozesse der Personalwirtschaft über das Intranet des eigenen Unternehmens werden Abläufe der Personalverwaltung vereinfacht, beschleunigt und vereinheitlicht. Mitarbeiter übernehmen Verantwortung für die Aktualität und Richtigkeit ihrer Daten.

 

In den Anfängen des Employee Self Service lag der Fokus hauptsächlich in der automatisierten Kommunikation der Mitarbeiter mit der Personalabteilung des Unternehmens. Die neuen Generationen des ESS geben Mitarbeitern darüber hinaus die Möglichkeit zur Karriereplanung, Fertigkeitsentwicklung, Fortbildung, die Kontrolle über die Erreichung von Zielen und zur interaktiven Leistungserfassung.


Self Services können einen Mehrwert im Vergleich zum direkten, persönlichen Kontakt mit einem HR- Mitarbeiter bieten, z.B. durch die höhere zeitliche und örtliche Verfügbarkeit, Zeitersparnis und die Eigenständigkeit des Benutzers bei den Serviceprozessen.


Beispiele für Employee Self Service (ESS) sind Erstellung und Abgabe eines Urlaub-Antrages, Erstellung und Änderung eines Reise-Antrages, Erstellung und Bearbeitung von Reisekostenabrechnungen, Änderung der eigenen persönlichen Daten, Eintragen der Arbeitszeiten, Anforderung eines Entgeltnachweises, Pflege eines Kandidatenprofils, Pflege eines Qualifikationsprofils, Suche von Mitarbeitern, Eingaben im Rahmen des jährlichen Mitarbeiterbeurteilungsprozesses etc.


Neben den Employee Self Services werden fast immer spezielle Manager Self Services (MSS) für Führungskräfte eingesetzt. Sowohl ESS als auch MSS spielen eine wichtige Rolle bei der Realisierung eines fortschrittlichen Service Delivery Modells im Rahmen von Shared Service Centern (SSCs).


Beispiele für Manager Self Services (MSS) sind Überwachung von Arbeitszeiten, Genehmigung von Reisen, Talentmanagement (z.B. Mitarbeiterbeurteilung), Personalbedarfsplanung und Personalbeschaffung, Berichtswesen.


Bei den Daten, die durch MSS und ESS gepflegt werden, kann es Überschneidungen geben. Von Mitarbeitern wie Managern gleichermaßen gepflegt werden können beispielsweise die Überwachung von Arbeitszeiten, Berichtswesen, Personalbedarfsplanung und Personalbeschaffung etc.


Unter dem Begriff Shared Services wird die Konsolidierung und Zentralisierung von Dienstleistungsprozessen einer Organisation verstanden.


Dabei werden gleichartige Prozesse aus verschiedenen Bereichen eines Unternehmens bzw. einer Organisation zusammengefasst und von (einer) zentralen Stelle(n) oder Abteilung(en) erbracht. Die anbietende Stelle wird in der Regel als Shared Service Center (SSC) bezeichnet. Die Abteilungen, welche die Dienstleistungen in Anspruch nehmen, stehen in einer Art Kundenverhältnis zum SSC.


Im Unterschied zum Outsourcing, bei dem externe Dienstleister mit einer Dienstleistung beauftragt werden, handelt es sich bei der Shared-ServiceKonstruktion um eine Art internes Outsourcing. Dieses soll die Vorteile eines externen Dienstleisters und interner Mitarbeiter verbinden.

 

Neben Vorteilen (insbesondere Erhöhung der Prozesseffizienz und Kostenreduktion) haben SSCs auch Nachteile.


Insbesondere die Kundennähe verringert sich durch die Zentralisierung tendenziell. Die Prozesse in den ursprünglichen Abteilungen müssen entsprechend angepasst werden. Eventuell kann die räumliche Distanz sich negativ auf die Leistungserbringung auswirken und auch der Abstimmungsaufwand erhöht sich tendenziell.


Aufgrund des gewünschten Spareffektes kann auch die Qualität der zu bearbeitenden Inhalte verloren gehen, da hier auf Billigkräfte mit teilweise minderer Qualifikation gesetzt wird, um das Gehaltsniveau zu senken (bevorzugt Osteuropa).


Ferner stellt sich ebenfalls die Motivation und die Loyalität der Mitarbeiter für das Unternehmen problematisch dar. Fluktuationsraten in Shared Service Centern sind i.d.R. sehr hoch und die Dauer der Beschäftigungsverhältnisse kurz. Die Mitarbeiter eines SSC erhalten zumeist nur befristete Arbeitsverträge und prekäre Konditionen.


Eine Diskussion des allgemeinen Für und Wider von SCCs würde hier zu weit führen und ist auch nicht Ziel dieses Artikels.


Tatsache ist, dass Unternehmen bereits heute weltweit mehr als 6.000 Shared Service Center betreiben und rund 52 Prozent ihren Hauptsitz in Europa haben (alle Dax-Konzerne haben solche Dienstleistungszentren).


Die Prozessoptimierung und Automatisierung im HR-Bereich ist also bereits Realität, keine Fiktion mehr.


In Ergänzung zu ESS, MSS und SSCs wird in der Arbeitswelt zunehmend auch künstliche Intelligenz in Form von virtuellen Assistenten eingesetzt. Intelligente Assistenten (Chatbots) übernehmen HR-Funktionen und Service Center arbeiten teilweise schon ohne direkten Eingriff von Menschenhand.


Chatbots sind textbasierte Dialogsysteme, die Oberflächen für die Textein- und Textausgabe aufweisen. Darüber können Menschen in einer natürlichen Sprache mit dem Dialogsystem in Kommunikation treten, teils sogar mit einem Avatar.


Chatbotsysteme sollen künftig immer mehr HR-Routineaufgaben übernehmen - als virtuelle Assistenten, die grundsätzlich sogar in der Lage sind, Bewerbungsgespräche zu führen und auch Bewerber einzustellen. Als künftige Einsatzfelder von Chatbots werden auch die Gewinnung und Entwicklung von Talenten gesehen.


Nach Ansicht von Experten eignen sich Chatbots besonders für die Talentakquisition und Onboardingprozesse, um hier die Geschwindigkeit der Prozesse zu erhöhen und häufig gestellte Routinefragen mit höchster Zuverlässigkeit zu beantworten.


Es ist offensichtlich, dass Employee Self Services und auch Chatbots dazu führen, dass der Human-Faktor im Personalwesen teilweise ersetzt wird.

 

Hierzu passt, dass eine Studie von CareerBuilder HR-Jobs grundsätzlich in Gefahr sieht (www.careerbuilder.com/share/aboutus/pressreleasesdetail.aspx?ed=12%2F31%2F2017&id=pr990&sd=2%2F21%2F2017). Laut dieser Studie gehen 72 Prozent der Arbeitgeber davon aus, dass diverse Aufgaben im Recruiting und im HR Management innerhalb der kommenden 10 Jahre komplett automatisiert werden.


Automatisierung findet derzeit insbesondere in den HR-Teilbereichen Employee Messaging, Benefits, Payroll, Interview Organisation, Kandidatenfeedback seitens der Vorgesetzten und Candidate Engagement statt.


Automatisiertes Candidate Engagement ist insbesondere für das Recruiting relevant.


Hier kommen automatisierte Systeme zum Einsatz, mit denen die Arbeitgeber nach der ersten Kontaktaufnahme Talente in eine sogenannte Talent Community einladen und somit durchgängig Zugriff auf einen beständigen und wachsenden Talent Pool haben.


Diese Systeme sollen die Möglichkeit bieten, Top Talente gezielt an sich zu binden. Nach der ersten Kontaktaufnahme soll dann eine Bindung aufgebaut werden - durch Engagement-Maßnahmen wie z.B. Willkommenskampagnen. Willkommens- und Einführungsinformationen in dem Portal begrüßen interessierte Top Talente und geben ihnen die Chance, exklusive interne News und interessante Insights über das Unternehmen zu erfahren.


Darüber hinaus erhalten die potenziellen Bewerber die Aufforderung, ihr Profil zu ergänzen, um die für sie passenden Stellenangebote herauszufiltern. Dazu können Interessenten unkompliziert ihre schon in LinkedIn oder XING bestehenden Daten importieren und mit ihrem Profil synchronisieren.


Essentiell bei Candidate Engagement Systemen ist dann der sogenannte Call to Action (CTA).


Die potenziellen Bewerber empfangen (basierend auf ihren Profildaten) für sie passende Jobangebote und können sich bei Interesse einfach und bequem mit nur einem Klick bewerben. Daraufhin erhält der Recruiter die ausgefüllten Profildaten, die einem Lebenslauf entsprechen. Damit das Profil immer aktuell gehalten wird, erhalten die potenziellen Bewerber zudem regelmäßige Reminder, ihre Daten zu überprüfen und gegebenenfalls zu überarbeiten. Des Weiteren werden ihnen Informationen zu interessanten Events zugeschickt, auf denen der persönliche Kontakt erweitert werden kann.


Mit diesen Candidate Engagement Maßnahmen, die sich zum größten Teil auch automatisieren lassen, sollen potenzielle Bewerber entlang der sogenannten „Candidate Journey“ vom Erstkontakt bis zum Einstieg begleitet werden.


Das alles klingt sehr effizient und die Technologie scheint unaufhaltsam auf dem Vormarsch zu sein - auch im HR-Bereich und im Bereich Recruiting.


Dazu passt eine Studie von KornFerry, die herausgefunden hat, dass 67 % der CEOs im Faktor Technologie die wichtigste Quelle für zukünftige Wettbewerbsvorteile sehen. 44 % der CEOs in großen globalen Organisation gehen sogar noch weiter und sind überzeugt, dass Roboter, Automation und Künstliche Intelligenz (AI) den Faktor Mensch weitgehend irrelevant für die Zukunft der Arbeit machen.

 

Gleichzeitig ist laut dieser Studie Human Capital aber unverändert der größte Wertschöpfungsfaktor – für jeden in Human Capital investierten 1 $ wurden 11,39 $ Wert generiert.


Hier liegt ein erkennbarer Widerspruch in der aktuellen Perzeption der CEOs und der Realität in den Unternehmen.


Aus diesem Widerspruch ergibt sich offensichtlich ganz konkret die Gefahr, dass Unternehmen (bzw. deren CEOs) einseitig in Technologie investieren und dabei ihr größtes Potenzial vernachlässigen – ihre Mitarbeiter.


Die Unternehmen befassen sich also aktuell auch im HR-Bereich intensiv mit Technologie, Prozessoptimierung, Automatisierung und damit verbunden mit technisch-theoretischen Denkansätzen und Konzepten.


Aber wo bleibt der Human-Faktor und ist er tatsächlich zunehmend entbehrlich?


Als Personalberater sind wir natürlich insbesondere an den Auswirkungen der Automatisierung auf das Recruiting interessiert.


Was verändert sich durch die Automatisierung und gibt es Grenzen einer fortschreitenden „Entmenschlichung“ der Prozesse und vor allem der damit verbundenen Kommunikation?


Klar ist, dass Technologie und Automatisierung die Geschäftsprozesse erleichtern und auch die Qualität erhöhen können – das ist der Vorteil von Automatismen, vor allem durch die Reduktion des Human-Faktors als Fehlerquelle.


Teile der Bewerberkorrespondenz könnten durch Automatismen schneller und auch zuverlässiger ablaufen. Das erscheint auch dringend vonnöten, denn laut einer großen Studie der Universität Bamberg und Monster Worldwide liegt aus Sicht der Bewerber das größte Manko der Arbeitgeber beim Bewerbungseingang und dem Bewerbermanagement.


In diesem Zusammenhang monieren Kandidaten insbesondere fehlendes Feedback, herausgezögerte und allgemein lange Wartezeiten und auch veraltete oder gar völlig ausbleibende Rückmeldungen seitens der Unternehmen.


Automatisierte Bewerberkommunikation kann also Informationsbedarf der Kandidaten zwar grundsätzlich decken, aber ist sie auch individuell genug für die hohe Anspruchshaltung im Kandidatenmarkt?


Das erscheint zumindest für höherqualifizierte Berufsgruppen sehr fraglich. Darüber hinaus gehen rund 40 % der Arbeitgeber davon aus, dass Quereinsteiger in den kommenden Jahren angesichts des herrschenden „Kandidatenmarktes“ zunehmend wichtiger werden.

 

In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage, ob Chatbots oder andere Recruiting Tools mit ihren mathematischen Algorithmen wirklich flexibel genug sind, um auch grundsätzlich geeignete Quereinsteiger zu erkennen?


Wohl eher nicht, denn die Algorithmen bilden primär das fachliche Anforderungsprofil ab und nicht die weichen Faktoren, die wiederum Quereinsteiger interessant machen können.


Ist es überhaupt realistisch, durch automatisierte Candidate Engagement Systeme tatsächlich Unternehmenswerte und Unternehmenskultur authentisch und spürbar vermitteln zu können?


Auch hier ist Skepsis angebracht, denn es scheint allein schon zweifelhaft, dass die potenziellen Kandidaten ihrerseits tatsächlich genügend Zeit und Aufmerksamkeit aufwenden, um sich mit den jeweiligen Informationen und Botschaften eines einzelnen Arbeitgebers sorgfältig auseinanderzusetzen und so tatsächlich direkt erreicht zu werden.


Es ist realistischer Weise ebenfalls anzunehmen, dass sich potenzielle Kandidaten parallel bei einer größeren Anzahl für sie attraktiven Unternehmen „listen lassen“ (ihr Qualifikationsprofil in das Recruiting-System einstellen) und somit ergibt sich automatisch, dass die Informationsverarbeitungskapazität der Kandidaten in Bezug auf einzelne Arbeitgeber schnell erreicht sein wird.


Daraus lässt sich dann wiederum schlussfolgern, dass es den unterschiedlichen potenziellen Arbeitgebern automatisiert kaum möglich sein wird, sich tatsächlich erkennbar voneinander abzuheben – allein schon mangels Zeit und Aufmerksamkeit seitens der Kandidaten.


Und somit können auch Unternehmenswerte, Corporate Social Responsibility Aktivitäten, die Sinnhaftigkeit einer Aufgabe etc. nur sehr eingeschränkt über technische Systeme und Künstliche Intelligenz vermittelt werden.


Aber genau diese Informationen sind zunehmend entscheidend dafür, dass potenzielle Kandidaten überhaupt in Betracht ziehen, ihren festen Job aufzugeben und einen Wechsel zu einem anderem Arbeitgeber zu vollziehen.


Kann es sein, dass durch Automatisierung im Recruiting (durch Candidate Engagement Programme, Chatbots und ähnliche Anwendungen) zwar die eigenen
Prozesse der Arbeitgeber geradezu idealtypisch abgebildet werden, aber die Bedürfnisse und die Anforderungen eine wichtigen Zielgruppe – der Kandidaten, die heute im festen Job sind – nur sehr unzureichend oder gar nicht berücksichtigt werden?


Die heutigen technischen Möglichkeiten machen es für die Unternehmen sehr reizvoll, ihre eigenen Recruiting-Prozesse möglichst effizient zu gestalten und zu
automatisieren - insbesondere im Bereich des Bewerbermanagements und der Bewerberkommunikation. Es ist also naheliegend, dass die Unternehmen diese Prozesse aus ihrer Sicht heraus stetig weiter optimieren und es sich so leicht wie möglich machen wollen. Die Arbeitgeber streben hier nach Optimierung und technischer Perfektion.

 

Wird dabei aber auch berücksichtigt, wie sich diese effiziente Behandlung für die Bewerber anfühlt - von Praktikanten hin bis zu den so zu begehrten Professionals?


Und haben die Unternehmen die Erwartungshaltung der Bewerber wirklich in die Gestaltung ihrer Technologie und der entsprechenden Prozesse mit einbezogen?


Ich persönlich habe da meine Zweifel, die auch durch ein aktuelles AhaErlebnis aus meinem persönlichen Umfeld kürzlich weiter genährt wurden.

Fallbeispiel:

 

In dem Fall handelte es sich um ein halbjähriges Praktikum im Rahmen eines BWLStudiums.


Ein mir bekannter Student hatte zur Mitte seines Studiums die Aufgabe, sich bei international tätigen Unternehmen um ein solches längerfristiges Praktikum zu bewerben und machte sehr wechselhafte Erfahrungen bei seinen vielfältigen Bewerbungsaktivitäten.


Ein sehr namhafter und höchst attraktiver Weltkonzern beispielsweise wickelte nach dem Eingang der Bewerbung alle weiteren Bewerbungs-Schritte rein automatisiert ab. Nachdem die Bewerbung eine erste automatische Selektion überstanden hatte, wurde der Student elektronisch kontaktiert und aufgefordert, ein sogenanntes Digital Interview zu führen. Dieses Digital Interview sollte aus vorbereiteten Fragen des Unternehmens bestehen, zu denen die Antworten des  Bewerbers über dessen Computer aufgenommen werden sollten.


Als Vorteile dieses Digital Interviews wurden dem Bewerber Flexibilität (Zeit und Ort), die dynamische Interviewsituation und die Fairness des Prozesses (durchgängig einheitliche Fragen für alle Bewerber) genannt.


Der Student musste sich online im Recruiting-Tool des Weltkonzerns einloggen und bekam nach einer elektronischen Begrüßung und einer kurzen Einführung auf
seinem Computerbildschirm nacheinander Fragen eingeblendet. Für die Beantwortung jeder vorformulierten Frage gab es jeweils 3 Minuten Zeit und die Kamera seines Computers übertrug alles, der Konzern erhielt dann automatisch die aufgenommenen Antworten.


Der Countdown lief und los ging es – der Student sah sich die ganze Zeit selber in der Kamera und musste seine Antwort in seinen Computer sprechen, ohne jegliches Feedback und visuelle Gesprächspartner. Wenn dann die 3 Minuten „Sprechzeit“ noch nicht vorbei waren, sollte der Bewerber theoretisch in der Lage sein, die Uhr vorzeitig zu stoppen.


Die vorzeitige Beendigung des Countdowns klappte jedoch keineswegs zuverlässig, so dass der Praktikant in spe stattdessen bis zum Ablauf der vollen 3 Minuten weiterhin in die Kamera starrte und sich zunehmend unwohl fühlte – er wusste nicht genau, was er tun sollte oder wohin er schauen sollte, bis die Uhr endgültig abgelaufen war.


Nach rund einer halben Stunde war das „Interview“ dann vorüber und die Online-Session wurde automatisch beendet.

 

Für den Studenten war dies eine sehr unpersönliche Erfahrung, denn es gab gar keinen zwischenmenschlichen Kontakt, kein unmittelbares Feedback während oder nach dem Interview. Vor allem blieb die Frage offen, wer sich nachher dieses Video mit den Antworten überhaupt ansieht.


Für mich am meisten überraschend verlief die gesamte Kommunikation weitgehend einseitig.


Am Anfang des Digital Interviews wurde zwar kurz ein Interview mit einem ehemaligen Praktikanten eingeblendet, der noch etwas zum Unternehmen sagte. Insgesamt blieb das Unternehmen selber aber die wesentliche Antwort schuldig, warum es überhaupt für den Bewerber attraktiv sein sollte, für genau dieses Unternehmen zu arbeiten. Werbung in eigener Sache war Fehlanzeige.


Nach dem kurzen Video des Ex-Praktikanten wurde nur noch von dem Bewerber „eingefordert“. Das Unternehmen setzte offensichtlich schlichtweg voraus, dass seine sehr namhaften Produkte und das Unternehmensimage ausreichend sein sollten, um den Bewerber weiterhin zu interessieren.


Unmittelbar nach diesem einseitigen „Interview“ setzten schon die ersten kognitiven Dissonanzen bei dem Bewerber ein – irgendwie fühlte sich der Verlauf nicht
„angenehm“ und auch nicht sympathisch an. Und auch die genannten Vorteile des Digital Interviews waren im Nachhinein aus Bewerbersicht gar nicht wirklich relevant und zutreffend.


In der Folge sammelte der Bewerber für sich unterschiedlichste Gründe, warum das Unternehmen letztlich doch nicht so attraktiv wäre. Plötzlich wurde die
Unternehmenskultur kritisch betrachtet und es ging sogar soweit, dass auch die Produkte nicht mehr so reizvoll empfunden wurden wie vor dem Interview (obwohl der Bewerber selber diverse Produkte dieses Weltkonzerns besitzt und stets mochte).


Von diesem schleichenden Prozess der kognitiven Dissonanzen auf der Bewerberseite bekam das Unternehmen natürlich gar nichts mit, denn ein BewerberFeedback
war im einseitig automatisierten Prozess nicht vorgesehen. Im schlimmsten Fall hat der Konzern sogar einen bisher treuen Konsumenten verloren, ohne es zu merken.


Im kompletten Unterschied dazu stand dann eine Bewerbung bei einem ebenfalls sehr bekannten, aber doch kleineren Unternehmen, dessen Produkte obendrein nicht ganz den persönlichen Präferenzen des Bewerbers entsprachen. Aufgrund des attraktiven Unternehmensstandortes hat sich der
Student hier beworben, ohne sich selber unbedingt mit den Produkten zu identifizieren.


Nach dem üblichen elektronischen Bewerbungseingang wurde der Student elektronisch durch den zuständigen HR Business Partner kontaktiert und es wurde
ein Skype-Interview vereinbart, das durch den möglichen Fachvorgesetzten und auch den HR Business Partner sehr zeitnah durchgeführt wurde. Im Rahmen dieses
Interviews wurde ein positiver persönlicher Kontakt hergestellt und der Bewerber erhielt nach Beendigung des Interviews die Kontaktdaten seiner beiden Gesprächspartner.


Nach dem Skype-Interview wurde dann der direkte Kontakt per Email fortgesetzt. Letztlich klappt es für den Bewerber nicht, weil die gewünschte Praktikumsdauer
seitens des Unternehmens letztlich doch 12 Monate betrug, diese Dauer aber die Vorgaben seiner Universität überschritt.

 

Trotz dieser Absage blieb aufgrund des persönlichen Bewerbungsprozesses (direkt und menschlich) ein sehr positiver Eindruck zurück, so dass der Bewerber sich auch in Zukunft jederzeit erneut bei diesem Unternehmen bewerben würde.

 

Bei dem ersteren, deutlich bekannteren Unternehmen kann sich der Student jedoch keine erneute Bewerbung vorstellen, die Dissonanzen überwiegen letztlich.


Es liegt auf der Hand, dass sich diese Erfahrungen von Studenten mit automatisierten Recruiting- und Auswahlprozessen auch auf automatisierte Recruiting-Tools für Kandidaten mit Berufserfahrung (Professionals) übertragen lassen - die Grenzen der Systeme werden auch hier schnell deutlich.


Potenzielle Kandidaten, die aktuell in einer festen Position sind und sich grundsätzlich wohlfühlen (was im derzeitigen Kandidatenmarkt bei den guten Kandidaten die Regel ist und nicht die Ausnahme), sind nur unzureichend automatisiert und standardisiert ansprechbar. Erst recht ist diese Kandidatengruppe nicht automatisiert und prozessoptimiert für einen Arbeitgeberwechsel zu gewinnen.


Professionals und insbesondere Top Talente erwarten eine individuelle Ansprache mit guten Argumenten, warum ein Wechsel für sie im aktuellen Moment genau der richtige Schritt sei – denn eigentlich wollen sie aktuell gar nicht wechseln.


Bei den potentiellen Kandidaten aus den Generationen Y und Z ist die Anspruchshaltung noch höher – diese jüngeren Professionals erwarten hohe Wertschätzung, fordern selbstbewusst schnelles und individuelles Feedback ein und setzen eine persönliche Behandlung voraus.


Wird dieser Anspruch nicht erfüllt, ziehen sie sich umgehend aus RecruitingProzessen zurück und konzentrieren sich auf diejenigen Arbeitgeber, die ihre Bedürfnisse besser erkannt haben und sie adäquat adressieren. 


Auch unsere Erfahrung zeigt seit Jahren, dass Führungskräfte und Professionals heute mehr Kommunikation, Information und Beratung einfordern – und das alles  ganz individuell und persönlich. Sie sind sich ihrer starken Position im Kandidatenmarkt bewusst und fordern selbstbewusst ein.

 

Generische Massenmails per XING oder LinkedIn laufen ins Leere, stattdessen führt i.d.R. nur die wirklich individuelle Ansprache zu einer qualitativen Reaktion seitens der kontaktierten potentiellen Kandidaten. Darüber hinaus werden die besten Response-Raten de facto durch den direkten Telefonkontakt erzielt, auch wenn diese Kommunikationsform angesichts der vielfältigen technischen Möglichkeiten eher old school anmutet.


Die Grenzen von Industrie 4.0 und Automatisierung werden im Recruiting aus unserer Sicht durch die Kandidaten und ihre Erwartungen gesetzt.


Eine Automatisierung hat per se keine Individualisierung zum Ziel, denn dies wäre ein Widerspruch in sich. Und gerade diese Individualisierung wird von Kandidaten erwartet – in Verbindung mit dem Human Faktor.


Aus diesem Grund laufen die Bestrebungen zu einer immer weitergehenden Automatisierung im Recruiting den Erwartungen potenzieller Kandidaten zuwider. Alle im HR-Bereich eingesetzten automatisierten Tools, die unmittelbar auch die Top Talente adressieren sollen, sollten daher nicht aus Unternehmenssicht, sondern aus Kandidatensicht zu entwickelt werden. Und sollten bewusst weiterhin den Human Faktor beinhalten, als möglichen USP.


Nach unserer Einschätzung können Arbeitgeber gerade durch einen frühzeitigen direkten Dialog mit potentiellen Kandidaten ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal nutzen – sie werden sich in einer zunehmend automatisierten Welt durch den unmittelbaren menschlichen, persönlichen Kontakt im Kampf um die Top Talente klar von ihren Wettbewerbern differenzieren können.


Auch nach Vertragsunterschrift – also im nachvertraglichen Dialog ist die fortgesetzte individuelle Kommunikation ein potenzieller Erfolgsfaktor.


Hierzu passt ein sehr schönes Praxisbeispiel eines Arbeitgebers, der in der kritischen Zeit zwischen Vertragsunterschrift und Antritt der neuen Stelle regelmäßige handgeschriebene Postkarten an die neuen Mitarbeiter schreibt und adventskalenderähnliche Kalender verschickt, um die Zeit bis zum Arbeitsantritt zu
überbrücken.


Auch Gutscheine für Fachliteratur und Fortbildungen werden zur Verfügung gestellt, damit die neuen Mitarbeiter die Zeit bis zum Arbeitsbeginn für die eigene Weiterqualifizierung nutzen können.


Durch diese individuellen Maßnahmen wird frühzeitig ein Kontakt zu den neuen Mitarbeitern aufgebaut und systematisch gepflegt. Der Human Faktor wird also gezielt als Erfolgs-Faktor eingesetzt.

 

Fazit:


Die gezielte Nutzung des Human Faktors als bewusst eingesetzter Gegenpol zur sachorientierten unternehmensseitigen Prozessoptimierung ist ein nachhaltiger
Erfolgsfaktor für interne Recruiter gleichermaßen wie Personalberater.


Denn letztlich wird die individuelle und unmittelbare zwischenmenschliche Kommunikation auch in Zukunft der wesentliche Entscheidungsfaktor für die
Gewinnung von Top Talenten sein.


Ihr
Mathias Friedrichs


m.friedrichs@friedrichs-partner.com

Tel.: 0211 – 577 30 – 0

 

Im Rahmen der umfassenden Informations- und Literaturrecherche für diesen Artikel wurden folgende Quellen genutzt:

 

Wikipedia (www.wikipedia.de)

 

Mit der Cloud Kosten im Personalwesen senken - HR Shared Service Center richtig planen, Artikel von Ulrich Jänicke in der Computerwoche 02.05.2017 (https://www.computerwoche.de/a/hr-shared-service-center-richtig-planen,3330046)

 

Frankfurter Allgemeine Personaljournal 02/2017 (http://www.faz-personaljournal.de/archiv)

 

Hunt Scanlon Media, “Robots are coming for your job. Here’s how, why and when”, Scott A. Scanlon, Editor-in-Chief (http://huntscanlon.com/robots-coming-job-heres)

 

CareerBuilder (www.careerbuilder.com/share/aboutus/pressreleasesdetail.aspx?ed=12%2F31%2F2017&id=pr990&sd=2%2F21%2F2017)

 

“Best Practices und “Big Failures” in der Rekrutierung“, ausgewählte Ergebnisse der Recruiting Trends 2016 der empirischen

 

Studie von University of Bamberg und Monster Worldwide (http://arbeitgeber.monster.de/recruiting/studien.aspx)

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